Kraniche und Paulinenaue – ein Jahr später

Bahnhof Paulinenaue

Paulinenaue… Ach! Im Kino kommt das vor, aber auch in Alpträumen: Man sucht einen Ort auf, den man als wunderbar im Gedächtnis behalten hat, doch er ist verschwunden, als habe er nie existiert. Das Gefühl stellt sich ein, dass ein böser Zauber im Spiel ist. Mit Kindheitserinnerungen geht es einem oft so. Seit das Flussufer mit der sandigen Badebucht betoniert wurde und das Abenteuer-Wäldchen einem Gewerbegebiet weichen musste, sind immerhin Jahrzehnte vergangen. Doch Paulinenaue! Das ist doch erst ein Jahr her! 

Die Kraniche wenigstens sind zuverlässig. In keilförmigen Staffeln steuern sie ihre Schlafquartiere an, wechseln wie Rennradfahrer (die das von ihnen gelernt haben) das Leittier aus, in dessen „Windschatten“ oder auch „Wirbelschleppe“ sie versetzt fliegend Energie sparen und plötzlich ihre Formation verändern, was zu faszinierenden Musterbildungen vor dem Abendhimmel führt, der hier in Linum weit genug ist, um Tausende von Zugvögeln gleichzeitig aufzunehmen. 

Die Dialektik von Verlust und Wiederherstellung der Form bleibt spannend wie der Blick durch eine Laterna Magica oder, moderner, die Beobachtung von Pixeln, die ein Bild generieren… Erst die hereinbrechende Dunkelheit macht dem Schauspiel ein Ende.

Auf der Fahrt nach Linum sahen wir die Landschaft, durch die der neue Radweg auf dem ehemaligen Bahnkörper der 1970 stillgelegten Pauliner-Neuruppiner Eisenbahn führt, bei Tag: Das „Rhinluch“ mit dem unermesslichen norddeutschen Horizont, den schilfgesäumten Teichen, den fetten Wiesen, den abgeernteten Maisfeldern ist ein Paradies für Störche und Kraniche, die hier auf dem Weg nach Süden Station machen. Dicht gedrängt staken sie über die Wiesen, wo ein verloren gegangener Jungvogel, der kläglich schreiend allein seinen Weg sucht, eventuell die Chance hat, wieder Anschluss zu finden. Kraniche, so erfahren wir, leben paarweise und ziehen jährlich ein bis zwei Nachkömmlinge groß, ihre charakteristischen Trompetensignale dienen dem Zusammenhalt der Familien. Nachts schlafen sie auf einem Bein in den Teichen, deren Wasser ihnen die vierfüßigen Feinde vom Leib hält, morgens brechen sie zur Futtersuche auf, und da die Region menschenleer und ihnen wohl gesonnen ist, werden es jedes Jahr mehr, die hierher kommen; auf rund 80 000 wird ihre Zahl in diesem Jahr geschätzt.

Nichts (außer einem Autobahnbrückenbau) scheint sich verändert zu haben. Zugvögel, die pünktlich wiederkehren, werden paradoxerweise zu Symbolen der Dauerhaftigkeit. Ganz zu schweigen vom Sternenhimmel; Andromeda, Kassiopeia, Großer Bär waren vor uns da und werden nach uns da sein, das ist gewiss. Der Radweg ist nicht mehr ganz so neu und glatt, vom Sturm abgerissene Zweige bedecken ihn, vor allem aber sind wir nicht allein : Ein Reh. Ein Hase. Ein Fuchs. (Auf einem späteren Weg hockt gemütlich ein Waschbär). Sie blicken unseren Fahrrädern neugierig entgegen und entfernen sich ohne Anzeichen von Panik. Was schließen wir daraus? Dass sich hier Fuchs und Has‘ gute Nacht sagen, weil kaum noch Menschen vorbei kommen? Auch das ist eine Wiederholung: Weit weg nähert und entfernt sich ein Zug. Dann taucht am Ende des schwarzen Tunnels auch die Lichtinsel auf, die den Bahnhof Paulinenaue ankündigt und wir beeilen uns, ins Warme zu kommen, in die Gaststube mit der heißen Musik und den coolen Gästen. Vielleicht, fragen wir uns, hat der Fußballverein diesmal ein Spiel gewonnen und feiert seinen Sieg noch viel übermütiger als vor einem Jahr seine Niederlage? 

Ach, Paulinenaue – ! Man ahnt, was kommt. Die Tür verriegelt, die Fenster dunkel, Totenstille. Kein Stuhl auf der Terrasse. Kein Ruhetagsschild. Keine Information. Als habe es das „Gasthaus zu den drei Landkreisen“ nie gegeben. Niedergeschlagen gehen wir zum Bahnsteig zurück, wo in kurzen Abständen Zugdurchfahrten gemeldet werden, gefolgt von heftigen Erschütterungen des Trommelfells. Der Bahnhof, ein Schmuckstück des Klassizismus, bemalt, beschädigt, besudelt, bröckelt vor sich hin. Bald wird es auch hier so aussehen, als habe es ihn nie gegeben. Eine Bahnstation wie im wilden Land, ein Lichtraum, ausgestochen aus der Ödnis. Der Regionalzug hält hier stündlich, aber nicht länger als 30 Sekunden, die Anfahrts- und Abfahrtszeiten sind identisch. Wer hier einsteigt, erscheint in letzter Minute, wer aussteigt, beeilt sich, nach Hause zu kommen. Jenseits der Gleise lauert die Wildnis. Bald, stelle ich mir vor, wird die Umgebung zugewachsen sein und unter den Stauden und Sträuchern werden Fuchs und Has‘, Waschbär und Haselmaus daran gehen, auf diesem Stückchen Globus das Verhältnis von Wildnis und Zivilisation zu revidieren.