Die Putschnacht

In der Nacht von Freitag auf Samstag sass ich zwei Stunden lang vor dem PC und starrte in den Lifestream, den CNN Türk aus Istanbul sendete. Als ich einschaltete, zwischen 23 Uhr und Mitternacht, war von einem Militärputsch gegen Erdogan die Rede, der aber schon niedergeschlagen sei. Ich sah Brücken, von denen es hieß, sie seien gesperrt, obwohl sich dichter PKW-Verkehr auf ihnen bewegte, ich sah junge Soldaten mit angelegten Gewehren am Rand eines Platzes, ich sah Panzer, die stillstanden, und denen sich Gruppen von Menschen näherten. Dass ich bis zwei Uhr morgens vor diesen unerklärten Bildern ausharrte, hatte etwas damit zu tun, dass ich 1956 als Schülerin die ersten Panzer, denen sich Zivilisten in den Weg stellten, auf Zeitungsfotos gesehen hatte und der vom Radio übertragene, blutig niedergeschlagene Ungarnaufstand zum Moment meiner Polisierung wurde. Durchaus besorgt behielt ich die Stahlkolosse im Auge, die Menschen so verletzlich erscheinen lassen. Kampfhandlungen waren keine zu sehen, ein Düsenjäger brauste am oberen Bildrand entlang, Menschen warfen sich hinter die Balustraden der Brücke und sehr weit entfernt knatterten Schüsse. Der Lifestream wurde von anderen Bildern unterbrochen. Eine Frau mit einem Smartphone in der Hand nickte bedeutungsvoll in die Kamera, in der parallel geschnittenen Nahaufnahme rief Erdogan die Bevölkerung auf, die Ausgangssperre zu missachten und massenweise auf die Straße zu gehen. Und sie taten es. Sie näherten sich dem Soldaten in meinem Blickfeld, der sie mit angelegtem Gewehr vom Panzer fernzuhalten versuchte, gestikulierend, auf ihn einredend, von vorn; er schoss nicht. Der Pulk kroch wie ein vielköpfiger Drache auf den Panzer zu, Männer fielen auf die Knie, streckten die Arme in die Luft, erhoben sich und krochen weiter bis unters Kanonenrohr. Es fiel kein Schuss. Was dann geschah, konnte ich nicht sehen, doch der Lifestream wurde unterschnitten, immer wieder zeigte die Kamera Dreiergruppen, ein unbewaffneter Soldat zwischen zwei Zivilisten; mit der Zeit begriff ich, dass es von der Geheimpolizei verhaftete Soldaten waren. Was auf und hinter dem Panzer vor sich ging, erklärten am nächsten Tag die Bilder in unseren Zeitungen: Die kauernden Soldaten, die ihre Köpfe mit den Armen schützen, der Mann, der einen Lederriemen schwingt, die erhobenen Fäuste, die blutüberströmten Gesichter, die Uniformen, die man sie auszuziehen gezwungen haben muss, denn freiwillig macht ein Soldat so etwas nicht. Niemand mag putschende Militärs, aber diese Jungens, die Befehlen gehorchten, waren es nicht, die geputscht haben (sie wussten ja teilweise nicht einmal, worauf ihre Abkommandierung hinauslief), und natürlich konnten sie nicht desertieren. Sie haben nicht geschossen. Und Erdogans merkwürdig gesammelter, fast leuchtender Gesichtsausdruck inmitten seiner Entourage gutgekleideter Männer, und sein furchtbarer Satz vom „Geschenk des Himmels“, und der Ruf nach der Todesstrafe. Mein Gefühl sagt mir: das war ein abgrundtief zynischer Fake. Geheimdienste haben schon ganz andere Ausnahmezustände inszeniert.