Verschleierte Ziele – 10 Thesen zum Populismus

These 1:

Populistische Rhetorik ist kein Alleinstellungsmerkmal des Populismus 

Populistische Rhetorik ist nicht dem Populismus vorbehalten. Vielmehr wird jede rhetorische Strategie populistisch genannt, mit der ein Redner sich seine Zuhörer geneigt zu machen versucht, indem er ihnen sugge­riert, er kenne und teile ihre Gefühle und Wünsche. Jede politische Agitation, ob Werbung für eine Partei oder Aufforderung zum Staatsstreich, hat populistische Anteile, die als Mittel eingesetzt werden, um eine Anzahl Menschen für eine bestimmte Sache zu gewinnen. Das ist nichts von vornherein Verwerfliches. Die Rhetorik gibt nur die Form vor. Ein engagierter Redner, der mit seiner ganzen Person für das, was er sagt, einzustehen scheint, hat mehr Chancen, sich durchzusetzen, als ein emotionsloser Referent ausgewogener Schlussfolgerungen, denn Gefühle teilen sich über die Sprechweise mit. In der Zuhörermenge ist der Einzelne außerdem vielfältigen Einflüssen ausgeliefert: nicht nur den Worten des Redners, sondern auch den Reaktionen der Menschen um ihn herum. Das ist keine Situation, die unabhängiges Denken fördert. Das erklärt auch, warum populistische Parteien sich gern mittels öffentlicher Versammlungen präsentieren: Sie richten ihre Botschaft auf die manipulierbare Masse aus. Durch Reduktion ihres Redeinhalts auf wenige Schlagworte konditionieren sie ihre Zuhörer, anstatt sie zu überzeugen.

These 2:

Populismus bedeutet Ermächtigung

Rechtslastige populistische Parteien haben vor allem in den USA eine bis in die 1880er Jahre zurückreichende Geschichte. Während sich nach dem 2. Weltkrieg in mehreren europäischen Ländern aus faschistischen Relikten kurzlebige Parteien mit Rechtsdrall entwickelten, wurde die Politik der Bundesrepublik von der „Neuen Linken“ herausgefordert, die auf ihre Weise eine populistische Bewegung war, allerdings mit einem anderen Zielpublikum. Die 68er Unzufriedenen waren gebildet, progressiv, aktiv, sie wollten mehr politische Teilhabe (und erhielten sie auch)1 Die Klientel der neuen rechtspopulistischen Parteien, wie der österreichischen FPÖ, des französischen FN, der niederländischen PVV und der deutschen AfD, ist hingegen eine eher politikabstinente, „schweigende“ Entität, die von ihrer Partei nur eines erwartet: dass sie alle Probleme „des Volkes“ außerhalb der existierenden politischen Strukturen löst, die als korrupt empfunden und abgelehnt werden.
Ziel ist nicht die Ergänzung des Parteienspektrums durch eine Rechtsaußen-Position, sondern das aufs Ganze zielende Projekt einer Einheit „des Volkes“ mit einer charismatischen Führung, die „es schon richten“ wird.2 Eine populistische Partei wird spätestens dann gefährlich für die Demokratie, wenn sich ein skrupelloser demagogischer Anführer an ihre Spitze stellt. Der „Trumpismus“ führt uns dieses Modell anschaulich vor: Der 45. Präsident der USA pflegt nicht nur den direkten Kontakt zu seinen Wählern (followern in jeder Hinsicht), indem er sie mittels Tweeds regelmäßig konditioniert und so eine politische Parallelwelt unterhält, die allein er kontrolliert, sondern er geht auch konsequent auf Konfrontationskurs mit den existierenden demokratischen Institutionen, einschließlich seiner eigenen Partei. – Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass diese Verfahrensweisen von den europäischen populistischen Parteien nicht interessiert beobachtet würden.

These 3:

Für den Populismus ist „das Volk“ eine Fiktion

Was alle populistischen Parteien gemeinsam haben, ist „eine Ideologie, die davon ausgeht, dass die Gesellschaft in zwei homogene, antagonistische Gruppen getrennt ist, das ‚reine Volk‘ und die ‚korrupte Elite‘, und die geltend macht, dass Politik ein Ausdruck der volonté générale oder des allgemeinen Volkswillens sein soll“.3 „Das Volk“ meint hier weder eine soziale Klasse noch eine bestimmte Bevölkerungsgruppe. Ob rust belt, middle England oder the native British, der Begriff bleibt konturlos. Der Politikwissenschaftler Paul Taggart4 schlägt vor, „das Volk“ der Populisten mit „heartland“ zu übersetzen: als eine imaginäre Gemeinschaft, wie z.B. „das wahre Deutschland“. Damit identifiziert sich „der hart arbeitende, eher konservative, gesetzestreue Bürgertyp, der in aller Stille, aber mit wachsendem Ärger mitansieht, wie seine Welt von Progressiven, Kriminellen und Fremden ‚pervertiert‘ wird. Das Konzept ‚heartland‘ unterstreicht, dass ‚das Volk‘ in der populistischen Propaganda weder real noch inklusiv ist, sondern dass es sich in Wirklichkeit um eine mythische und konstruierte Teilmenge der Bevölkerung handelt“5

These 4:

Populistische Parteien greifen reale Schwachstellen der Politik auf

Der Antagonismus „Volk“ gegen „Elite“ gibt sich moralistisch. Nur „das Volk“ verfüge über den common sense. „Aus populistischer Sicht ist der ‚gesunde Menschenverstand‘ dem Reflexionswissen von Intellektuellen nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen, weil er auf konkreter, lebensweltlicher Erfahrung beruhe, noch nicht vom Virus des modernen Skeptizismus infiziert sei und daher noch einen unverfälschten, ‚gesunden‘ Zugang zu Recht und Wahrheit habe“6 Nun ist die wachsende Kluft zwischen der politischen Klasse und ihrer Basis in den westlichen Demokratien durchaus eine Tatsache, begründet u.a. durch die Finanzierung der Parteien aus Steuergeldern, die Monopolisierung der Politik, die Zusammenarbeit von Regierung und Opposition.7 Vor allem die „Kartellbildung“ mittels großer Koalitionen fördert den Eindruck, dass ein Establishment von Parteien, Bürokraten und Lobbyisten dem Souverän die Richtlinien der Politik aus den Händen gewunden habe. Populisten nehmen für sich in Anspruch, im Namen der „Unterdrückten“ zu sprechen, deren Interessen im gegenwärtigen System unberücksichtigt blieben.

Das Wahlvolk hat sich aber – das ist eine unumgängliche Erkenntnis – parallel zur Verdichtung der politischen Klasse ebenfalls verändert, seitdem die Massenmedien Radio und Fernsehen, die eine Zeitlang von den politischen Parteien kontrolliert wurden, unabhängig und kommerzialisiert wurden. Das hat zu einem Wettbewerb der Einschaltquoten geführt, der nicht nur dem Skandal unangemessene Entfaltungsmöglichkeiten bietet, sondern auch der Selbstinszenierung der Populisten. Die geballten Negativeindrücke tragen dazu bei, das moralische Überlegenheitsgefühl der Zuschauer zu stärken. Die Wahrnehmung von Politik hat einen höhnischen Unterton bekommen. Politiker werden nicht mehr als Volksvertreter respektiert, sondern als Parteienvertreter verachtet.

These 5:

Der Populismus ist ein Wolf im Schafspelz

Es ist keine Übertreibung, einer populistischen Partei in einem gewählten Parlament als „Wolf im Schafspelz“ zu mißtrauen, denn es ist davon auszugehen, dass ihre Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren grundsätzlich taktisch motiviert und demonstrativ nach außen gerichtet ist: Den potentiellen Wählern soll suggeriert werden, dass nun endlich zwischen den „korrupten“ Vertretern der Alt-Parteien echte Propheten bemüht sind, die Wahrheit ans Licht zu befördern. Für die Abgeordneten der demokratischen Parteien können sich in ihrem legislativen Alltag dadurch schizophrene Situationen ergeben, denn sie bekommen statt klarer, oder wenigstens nachvollziehbarer, Ansagen von diesen Kolleg(in)en „Doppelsprech“8 serviert und wissen nicht, was sie glauben dürfen, und was nicht. Darunter leidet das Grundvertrauen in die eigene Aufgabe, ohne das kein Abgeordneter seine Arbeit tun kann. Das beschädigt, durchaus absichtsvoll, die Grundlagen der parlamentarischen Demokratie. Eine populistische Partei beabsichtigt nicht in erster Linie, ein vom Wähler legitimiertes Programm zu realisieren, sondern sie versteckt sich hinter dieser scheindemokratischen Vorlage, um zunächst einmal mehrheitsfähig zu werden.

These 6:

Die demokratischen Parteien sind das Feindbild des Populismus

Die typische Schwäche populistischer Wahlprogramme, nur zu benennen, was sie abschaffen, aber nicht, was sie an dessen Stelle setzen wollen, ist kein Grund zur Beruhigung. Die Wähler dieser Parteien urteilen nicht an Hand mehr oder weniger eingehaltener Wahlversprechen. Sie wollen, dass alles anders wird, ganz egal wie, nur mit dem Ergebnis, dass beseitigt wird, was sie stört. Populistische Parteien schustern daher Wahlprogramme zusammen, die Allgemeines versprechen: Vollbeschäftigung. Aussperrung der Fremden. Heimat als Idylle. Traditionelle Männer- und Frauenrollen. Gehorsame, leistungsorientierte Kinder. Harte Bestrafung aller Regelverstöße. „Populismus ist eher moralistisch als programmatisch… Wesentlich für den Diskurs ist die normative Unterscheidung zwischen ‚der Elite‘ und ‚dem Volk‘, nicht der Unterschied von Haltung und Meinung. Der Populismus vertritt ein manichäisches Weltbild, in dem es nur Freund und Feind gibt. Gegner sind nicht einfach Leute mit anderen Vorlieben und Werten, sie sind böse! Folglich ist ein Kompromiss unmöglich, denn er ‚korrumpiert‘ die Reinheit“9

These 7:

Der Populismus fordert Freiheit vom Schutz der Freiheit

„Populismus ist beißende Kritik an den demokratischen Schranken innerhalb der liberalen Demokratien“10 Dass auch die liberale Demokratie Grenzen setzt, wie z.B. die Tabuisierung der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit durch die „progressive“ und „politisch korrekte“ Sprachregelung, erscheint den Populisten als eine Selbstwiderlegung des liberalen Konzeptes und begründet ihre grundsätzliche Ablehnung von Idee und Institutionen der Demokratie. Die Kampf-Formel „das wird man doch noch sagen dürfen“, mit der Tabubrüche eingeleitet werden, entspringt eben dieser Verwechslung von Freiheit mit Rücksichtslosigkeit. In der extremsten Interpretation wird jede Einschränkung des Mehrheitsdiktats verworfen, vor allem der verfassungsmäßige Schutz von Minderheiten und die Unabhängigkeit von staatlichen Schlüsselinstitutionen wie Justiz und Zentralbank. Wie ein populistischer Führer, wenn er die Macht dazu hat, mit den Regeln der Demokratie verfährt, lässt sich am Regierungsstil des Donald Trump studieren. Um die Unabhängigkeit der Justiz auszuhebeln, die seine Gesetzgebung in Frage stellen könnte, besetzt er als vorgezogene strategische Maßnahme möglichst viele Schlüsselpositionen mit Juristen, auf deren Loyalität er baut. Erwartet wird von ihnen, dass sie die Gesetze parteilich interpretieren. Die Verfassungsgebundenheit der parlamentarischen Demokratie kann sich als Schwachstelle erweisen, wenn ein Autokrat sie zum Instrument seiner Politik macht.

These 8:

Abgehängt? Das Stichwort des Rechtspopulismus

„Wählersoziologisch sind im Rechtspopulismus zwei Segmente überrepräsentiert: mittelständische Gruppen (kleine Kaufleute, Handwerker, andere, durchaus prosperierende Selbstständige) und Arbeiter im privaten Sektor, die zuvor eher links gewählt haben, sich aber von den zur ’neuen Mitte‘ drängenden Parteien der Linken nicht mehr repräsentiert, ja sogar betrogen fühlen. Sie tragen unvereinbare Erwartungen an diese Parteien heran: mehr oder weniger Staat, höhere oder geringere Steuern, Abbau oder Verteidigung des Sozialstaats“11
Bei den Bundestagswahlen wird sich herausstellen, ob es der SPD gelingt, mit dem Versprechen einer gerechteren Gesellschaft ihre aus Enttäuschung über linke Politik zur AfD abgewanderten Wähler zurückzugewinnen. Es wird sich daran auch ablesen lassen, wie hoch der Anteil der gefühlten „Verlierer“ unter den Protestwählern überhaupt ist. Denn selbst wenn die AfD bestimmte Wähler wieder verlieren sollte, deuten die politikwissenschaftlichen Prognosen nicht auf ein Verschwinden des Populismus hin, da er auf Veränderungen in den westlichen Demokratien zurückzuführen ist, die zu beseitigen nicht in der Macht der nationalen Parteien steht; als da sind:

  1. Die Entwicklung einer post-industriellen Gesellschaft und die Veränderung der Arbeit.
  2. Das Ende des kalten Krieges. Die Demokratie hat ihren Erzfeind verloren, an dem gemessen sie gut wegkam, während die „real existierenden Demokratien“dem Vergleich mit den theoretischen Modellen immer weniger standhalten.
  3. Die Globalisierung als Begrenzung des nationalen Handlungsspielraums. Sie wird außerdem unzureichend vermittelt, denn sie wird von den Politikern für alle wirtschaftlichen Nachteile verantwortlich gemacht, während sie sich die globalisierungsbedingten Vorteile als ihr eigenes Verdienst gutschreiben.

These 9:

Eine „dünne“ Ideologie, die zur „Anreicherung“ einlädt

Das Gesellschaftsbild aller populistischen Parteien orientiert sich an der „guten alten Zeit“ (der 50er Jahre), die wiederzubeleben ein durchaus unrealistisches Ziel ist. Dieses wahnhafte Element verhindert nicht nur ein ergebnisorientiertes Handeln, es stellt auch eine Einladung an entschlossenere Ideologen dar, das Format für ihre Zwecke zu nutzen. „Als eine substantiell schwache Ideologie kann der Populismus leicht mit sehr unterschiedlichen anderen Ideologien, inklusive Kommunismus, Ökologismus, Nationalismus oder Sozialismus, aufgefüllt werden„12 Was die AfD betrifft, so sind es rechte Ultras wie Höcke oder Gauland, die sich die Partei gern gefügig machen würden, und moderatere Mitglieder, die das zu verhindern versuchen.13 Falls diese Flügelkämpfe zugunsten der Radikalen ausgehen würden, wäre die AfD eine politischen Zeitbombe. Eine demagogisch versierte Führungsfigur könnte sie zu einer ernsthaften Bedrohung der parlamentarischen Demokratie machen. Ziel könnte z.B. sein, eine Mehrheit im Bundestag dafür zu gewinnen, dass der Volksentscheid auch für andere Themen als eine Gebietsveränderung eingesetzt werden dürfte. Die Ausweitung des Instrumentes Volksentscheid dürfte ein Hauptanliegen der AfD sein.

These 10:

Der Populismus und Europa

Es ist nicht so, dass die populistischen Parteien Europas sich zusammen schließen müssten, um den Euro und die europäischen Institutionen zu unterminieren. Das geht auch nationenweise. Es war – das sollte man im Auge behalten – eine populistische Partei, die UKIP, die den Volksentscheid für den Brexit durchgeführt und in ihrem Sinn beeinflusst hat. Auch die AfD ist ursprünglich aus einer Frontbildung gegen Europa und den Euro entstanden. Was in der Erleichterung darüber, dass es Wilders in den Niederlanden nicht gelungen ist, die Regierungsbildung zu übernehmen, leicht vergessen wird, sind die fünf zusätzlichen Parlamentssitze für die PVV. Der Populismus in Europa baut nicht ab, sondern er nimmt zu. Langfristig in den Kommunen, Landtagen und im Bundestag die notwendigen Mehrheiten für ihre eigene Politik anzusammeln, ist das strategische Ziel der AfD. Politikwissenschaftler warnen vor Optimismus: „Auf Grund der strukturellen Veränderungen, der konsequenten Verschiebung von legaler Autorität zu charismatischer Autorität und der Entmystifizierung der westlichen liberalen Demokratien wird der Populismus ein langfristiges Problem demokratischer Politik werden, und zwar immer dann, wenn wesentliche Teile der ’stillen Mehrheit‘ sich von ‘der Elite’ nicht länger repräsentiert fühlen“14

  1. Cas Mudde, The Populist Zeitgeist, in: Government and Opposition, 39 (2004) 3, p. 544.
  2. Klaus von Beyme, ‘Party Leadership and Change in Party Systems: Towards a Postmodern Party State?’In: Government and Opposition, 31: 2 (1996), pp. 135–59.
  3. Mudde (2004), S. 543
  4. Paul Taggart, Populism and Representative Politics in Contemporary Europe, in: Journal of Political Ideologies, 9 (2004) 3, p. 274f.
  5. Mudde (2004) p. 546.
  6. Karin Priester, Wesensmerkmale des Populismus, in: bpb, Aus Politik und Zeitgeschichte, 5–6/2012, p. 3.
  7. Klaus von Beyme, ‘The Concept of Political Class: A New Dimension of Research on Elites?’In: West European Politics, 19: 1 (1996), p. 84.
  8. George Orwell, 1984: Lüge ist Wahrheit und Unterdrückung ist Freiheit.
  9. Mudde, p. 544.
  10. Margaret Canovan, ‘Trust the People! Populism and the Two Faces of Democracy’, in: Political Studies, 47: 1 (1999), pp. 2–16.
  11. Karin Priester, a.a.O.
  12. Mudde, p. 544.
  13. vgl. Justus Bender, Was will die AfD? Eine Partei verändert Deutschland, München 2017.
  14. Mudde, p. 563.