Ego-Apokalypse – Amokläufer

Der Amokläufer ist ein Selbstmörder, der versucht, möglichst viele Menschen mit in den Tod zu reißen, den er für sich beschlossen hat. Zwar schrecken einige zuletzt vor dem Selbstmord zurück, doch meistens bringt sich der Amokläufer durch das Blutbad in eine Zwangslage, aus der es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Entweder die Polizei erschießt ihn, oder er richtet sich selbst. 

Der 18-jährige Amokläufer von München David S., der neun junge Menschen willkürlich getötet hat, entspricht einem Tätertyp, mit dem sich seit den 90er Jahren amerikanische Psychiater und Soziologen gründlich beschäftigt haben. Damals hatte an amerikanischen Hochschulen eine Serie von SRS (School Rampage Shootings) eingesetzt, deren vorläufiger Höhepunkt – aber nicht Endpunkt – das Massaker an der Columbine Highschool vom 20. April 1999 war. Der Begriff „Mass shooting“ definiert einen Gewaltakt mit mindestens vier Toten, ein Hinweis darauf, dass die Quantität der Opfer eine Rolle spielt.1 Kennzeichnend ist weiter, dass keine politischen oder kriminellen Motive im Spiel sind. Der Amokläufer ist ein Selbstmörder, der versucht, möglichst viele Menschen mit in den Tod zu reißen, den er für sich beschlossen hat. Zwar schrecken einige zuletzt vor dem Selbstmord zurück, doch meistens bringt sich der Amokläufer durch das Blutbad in eine Zwangslage, aus der es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Entweder die Polizei erschießt ihn, oder er richtet sich selbst.

Es sind in der Regel Schüler, also sehr junge Menschen, die diesen gewalttätigen Abschied von der Welt wählen. Zweifellos ist sie ihnen unerträglich geworden; doch wenn es soziale Depravierung wäre, die sie motiviert, warum richtet sich ihre Aggression dann gegen Gleichaltrige oder Jüngere? Es ist kein Zufall, dass David S. sich über den Amoklauf von Winnenden (2009) informierte, genau so wenig wie die Wahl des Datums zufällig ist, an dem vor fünf Jahren Anders Breivik 77 Kinder und Jugendliche tötete. Amokläufer sind Nachahmungstäter. Sie planen den Massenmord akribisch, sie konditionieren sich psychisch, sie stellen zielstrebig eine Situation her, die sie zwingt, ihren Vorsatz bis zum Ende durchzuführen. „Ich muss euch alle abknallen“, dieses Zitat von David S. aus einem Zeugenvideo verweist auf die Dimension der Mordphantasie: Alle sollen vernichtet werden.

Die Biografien von Amokläufern decken in der Regel Benachteiligungen und Demütigungen auf, die von ihnen offenbar als vernichtend empfunden wurden. „Wegen euch bin ich gemobbt worden sieben Jahre lang“, rief David S. dem Zeugen zu. Ein Untersuchungsbericht über das Columbine-Massaker hatte seinerzeit zutage gefördert, dass an der High School sadistisch, häufig und meist straflos schikaniert wurde. Eric Harris und Dylan Klebold galten als Einzelgänger und bekamen oft die volle Wucht des Schikanierens und Lächerlichmachens ab. Nun gibt es wahrscheinlich keine Schule auf dieser Welt, in der die Stärkeren nicht versuchen, den Schwächeren ihre Überlegenheit zu zeigen, und die meisten Kinder lernen, damit umzugehen. Das Mobbing muß auf seelische Instabilität treffen, um die Erfahrung der Ohnmacht in tödliche Allmachtsphantasien zu verwandeln. Eric Harris und Dylan Klebold, sensible, begabte Kinder aus wohlhabenden Häusern, steigerten sich wechselseitig in den Wahn hinein, die ganze Hochschule in die Luft zu jagen. Sie wollten sich in einer Dimension rächen, die der Totalität ihrer eigenen Vernichtungsgefühle entsprach. „Noch eine halbe Stunde bis zu unserem kleinen Jüngsten Gericht“2 prahlte Dylan Klebold auf seinem Abschiedsvideo. Auch Eric Harris war sich sicher: „Heute geht die Welt unter“.3

Ein Amoklauf ist ein hochsymbolischer Akt. Der Suizid ist fester Bestandteil4 und tiefster Zweck dieser Inszenierung: Sterben von eigener oder fremder Hand. Aber es handelt sich nicht um einen Akt der Verzweiflung; der fände in aller Stille statt. Es ist ein Akt der Selbsterhöhung: Etwas Furchtbares wagen und sich dann höhnisch den Folgen entziehen. Für einen kurzen, aber irreversiblen Moment Herr sein über Leben und Tod. „Töten und zerstören, so viel wir können… Ich will der Welt einen bleibenden Eindruck hinterlassen“, schrieb Eric Harris in sein Tagebuch5 Töten, nicht nur einen, sondern möglichst viele, und als Massenmörder in die Geschichte eingehen. In einem Scenario des Entsetzens abtreten – doch nicht, um sich selbst zu richten, sondern um danach nie wieder den Boden der Realität berühren zu müssen. Denn diese gottgleiche Großartigkeit ist die Geste, die von den allerniedrigsten Motiven ablenken soll: Neid und Rache. Die Mitschüler, die Gleichaltrigen, die Jüngeren, werden zu Opfern, weil sie die Täter von ihrem Leben ausgeschlossen haben. Sie sollen keine Zukunft haben, wenn die Täter selbstzerstörerisch wegwerfen, woran allen anderen so viel liegt. Die Apokalypse, mit der sich Dylan Klebold und Eric Harris in die Weltgeschichte einschreiben wollten, reduzierte sich auf ein hundsgemeines Blutbad. Es ist unfassbar, wie sie es genossen, ihre Mitschüler Auge in Auge zu töten. Als der Rausch vorbei war, erschossen sie sich selbst. David S. hatte noch 300 Schuss Munition, als die Polizei ihn stellte.

  1. www.massshootingtracker „It’s about half an hour before our little judgement day.“ Zitiert in: Jonathan Fest, Ceremonial Violence: Understanding Columbine and Other School Rampage Shootings. New York 2008, S. 208.
  2. www.massshootingtracker. „It’s about half an hour before our little judgement day.“ Zitiert in: Jonathan Fest, Ceremonial Violence: Understanding Columbine and Other School Rampage Shootings. New York 2008, S. 208.
  3. „Today the worlds‘ going to an end“. J.F., a.a.O., S.222.
  4. Es sei denn, der Attentäter gibt auf. Dann ist es aber schon zu spät. Die überlebenden Schulattentäter, auch die minderjährigen, wurden in den USA mit lebenslänglicher Haft bestraft.
  5. „Kill and damage as much as we fucking can… I want to leave a lasting impression on the world“. Eric Harris in seinem Tagebuch. J.F., a.a.O., S. 195.