Die Philosophen: Das Absurde und wir

Januar 2014

Thema Albert Camus. Wir haben den „Mythos des Sisyphos“ besprochen, dessen Symbolik, interpretiert als tapferes Schultern des Alltags, allen einleuchtet. Umstritten ist Sisyphos‘ Glücksmoment. Während er hinter dem Stein her, der ihm einmal mehr entglitten ist, den Berg hinunter in die Ebene steigt, erlebt er sich selbst als freien Menschen. Sein Schicksal ist tragisch, doch indem er es erkennt und als unausweichlich akzeptiert, besiegt er es. Der Triumph liegt in der Erkenntnis. Die Götter wollen erreichen, dass Sisyphos angesichts seiner hoffnungslosen Lage zusammenbricht, doch er nimmt sie einfach nur zur Kenntnis. “Das Wissen, das seine eigentliche Qual bewirken sollte, vollendet gleichzeitig seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann“.1 Moralisch bleibt er den Göttern überlegen. – Aber ist das nicht ein sehr schwacher Trost?

Sysiphos
Sysiphos – Mischtechnik auf Papier

Nun also „Der Fremde“. Wir sind heute sechs: Isadora, dünn wie ein Model, alternativ-elegant, mit tiefrotem Lippenstift und kajalbetonten Augen unter dem wilden graumelierten Bürstenhaarschnitt. Eve, unsere Klassenbeste (und Jüngste), mit zwei Brillen, einer für nah und einer für fern, grenzenlos wissensdurstig, immer gut vorbereitet, uneitel intellektuell; sie versteckt ihr Licht gern unter dem Scheffel. Diogenes, vermutlich der belesenste und denktrainierteste Mann im Kiez, der die warmen Tage vor seinem Stammcafé an der Bergmannstraße verbringt, entweder Zeitung lesend oder seine Bücher mit Bleistift markierend, während sein schwarzweißer Spaniel nach Hundebekanntschaften Ausschau hält. Weiter Mühle, der Bayer, der so umfassend an allem interessiert ist, dass die Philosophie nur einen kleinen Ausschnitt seines Universums abzudecken vermag. Dann die Neue, über die noch niemand eine Meinung hat. Schließlich ich, die Protokollantin.

Isadora, mit ihrem Sinn fürs Theatralische, trägt uns die Mord-Passage vor: „Das Klatschen der Wellen war noch träger, noch verhaltener als mittags. Es war dieselbe Sonne, dasselbe Licht auf demselben Sand, der sich hier weithin erstreckte. Schon seit zwei Stunden schien der Tag stillzustehen, seit zwei Stunden war er in einem Ozean aus kochendem Metall vor Anker gegangen…“ 2 Sie meint, die Hitze sei schuld daran gewesen, dass Meursault die Selbstkontrolle verlor und auf den Araber schoss. Die Sonne im Süden könne einem ganz schön zusetzen. Diogenes: Diese Szene sei doch die pure Metaphysik. Überwältigt von der Gewalt des Lichts, das die zivilisatorischen Schranken seines Bewusstsein zerstrahlte, habe Meursault erkannt, dass die Essenz des Lebens der Tod sei. Aus dieser Erkenntnis heraus, die „aus dem Stahl sprang“3, als der Araber das Messer zog, habe er nicht nur einmal geschossen, sondern – wie um die Absurdität auf die Spitze zu treiben – gleich fünfmal, und den Araber getötet.

Wir sind nicht weniger ratlos als der Untersuchungsrichter, was die Frage betrifft, warum Meursault zwischen dem ersten und den späteren Schüssen gezögert hat… War es das „nun ist schon alles egal“ der vulgarisierten Absurdität? Sympathisch findet „den Fremden“ jedenfalls niemand. Diogenes wirft Camus sogar Rassismus vor, aber das kann man widerlegen – die „Bösen“ in diesem Plot sind nicht die Araber, „böse“ ist der weiße Kolonialist Raymond, der seine arabische Freundin erniedrigt hat und die Rache ihrer Brüder fürchten muss. (Abgesehen davon, dass Camus nicht moralisiert. Auch moralisch ist „der Fremde“ völlig indifferent). Im übrigen sind es die Mühlen des französischen Rechtssystems, in die Meursault geraten ist. Es sind Franzosen, die über ihn richten.

Der koloniale Hintergrund ist nicht allen gewärtig. Albert Camus stammte von den frühesten Kolonisatoren ab, die schon kurz nach der französischen Annektierung 1830, vor dem Elend in ihren Heimatländern flüchtend, nach Algerien kamen und sich als Land- und Weinbergarbeiter an die Latifundienbesitzer verdingten. Im Ersten Weltkrieg wurde Albert Camus‘ Vater, von Beruf „caviste“, Weinfacharbeiter, 1914 eingezogen und bald darauf tödlich verwundet. Die Mutter ging mit den beiden Söhnen nach Algier, wo sie Familie hatte, und ernährte sie als Putzfrau.

Wir sind uns darüber einig, dass dieser Zufalls-Mörder ein Konstrukt ist, ein Ideenträger. In Wirklichkeit würde kein Mensch so reagieren. Ein Psychopath, der aus Gefühllosigkeit mordet, würde das Blaue vom Himmel lügen, um seinen Kopf zu retten. Meursault hingegen denkt nicht daran, zu lügen. Wäre er ein Ideologe der Wahrheit, dann würde er mit ihr hausieren gehen. Er erweckt vielmehr den Anschein, als sei ihm das Lügen einfach zu anstrengend. Es steckt aber mehr dahinter. Er ist ein Provokateur. Er lehnt die Regeln der (mediterranen) Gesellschaft ab, in der die alten Eltern grundsätzlich von der Familie gepflegt werden. Er lehnt es ab, Trauer zu heucheln, weil er meint, seine Mutter sei im Heim glücklich gewesen und habe ihn nicht vermisst. Er weigert sich vor allem, ein Bekenntnis zum christlichen Glauben abzulegen, der ihm nichts bedeutet. Nur bei dieser Gelegenheit zeigt er Gefühl. Er explodiert in einem Wutanfall, als der Priester nicht ablässt, den zum Tod Verurteilten an Gott zu erinnern. Diogenes weist nicht ohne Ironie darauf hin: Meursault, Galionsfigur des Absurden, Verkünder der Sinnlosigkeit des Lebens, erträgt es nicht, mit einem Sinnsystem konfrontiert zu werden. Was macht ihn daran so böse? Stünde er wirklich so über den Dingen, wie er tut, könnte er den Bekehrungsversuch doch mit einem Schulterzucken an sich ablaufen lassen…