Schöner kann die Welt nicht untergehen – Lars von Triers „Melancholia“

Melancholia ist ein Planet, der auf die Erde zu rast und sie nach einem Todestanz der Gestirne vernichten wird. Melancholia ist aber auch eine Krankheit, eine Mischung aus Hellsicht, Depression und Hysterie, an der die blonde Justine (Kirsten Dunst) leidet, was sich in wunderschöne Bilder übersetzen lässt. Halt: einmal darf sie hemmungslos abstoßend sein und kleckernd und schmatzend Marmelade aus dem Glas naschen. Ein anderes Mal ist sie wirklich böse, da drischt sie erbarmungslos auf ihr Pferd ein, das doch nur aus Angst vor dem geheimnisvollen Stern den Gehorsam verweigert. Was sie sonst so treibt – die eigene Hochzeitsfeier schwänzen, den liebenden Ehemann verjagen, einen Azubi auf dem Golfplatz vernaschen, ihren Chef beleidigen – gehört heutzutage zum Repertoire schlecht erzogener Töchter. Dass Justines Wahnsinn sich hauptsächlich als Verstoß gegen die guten Manieren äußert, ist nur konsequent, denn der Weltuntergang trifft in diesem Fall die feine Gesellschaft, mit der Lars von Trier ja sonst nicht viel im Sinn hat. Nur der Adel (ob nun geburts- oder geldgeneriert, wer sonst lebt heute in einem Schloss mit eigenem Golfplatz hoch über der Küste?) ergibt sich dem Schicksal mit so viel Eleganz. Wie behalte ich in der größten aller denkbaren Katastrophen die Contenance? scheint die letztgültige Frage zu sein. 

Was für ein schöner Film! Ein bisschen melancholisch, aber überhaupt nicht schrecklich. Als ob Lars von Trier, der Meister der Katharsis, seinen Frieden mit der Erde macht, indem er sie samt allem, was darauf fleucht und kreucht, der Vernichtung preisgibt. So weit ist bisher keiner der Film-Apokalyptiker gegangen: dem Leben Null Chance zu geben. Da ist immer das kleine Häuflein Leidensfähiger, Tapferer, das den Fortbestand der Gattung erkämpft. „Melancholia“ aber ist ein Film über die endgültig letzten Tage der Menschheit, und Justine, zur Kassandra gewandelt, formuliert die Botschaft unmissverständlich: Die Welt ist schlecht, sie verdient ihr Ende. Und das, obwohl der Film ganz ohne Sodom und Gomorrha auskommt. Kein Sadismus und/oder Masochismus, keine Foltern, keine Erniedrigungen, keine Orgien und nur ein paar Sekunden Sex auf der öffentlichen Wiese. Man muss sich schon die Grenzüberschreitungen vor Augen halten, die Lars von Trier in früheren Filmen riskiert hat, um diese Schlussfolgerung zu verstehen. Das große Fest zu Justines Hochzeit entlarvt weder die Herren im Frack noch die Damen im Abendkleid als kostümierte Monster (ganz anders als Winterbergs doppelbödiges „Fest“), auch wenn der Vater der Braut silberne Löffel einsteckt und ihre Mutter die Familie scharfzüngig vorführt. Selbst Justines zynischer Chef ist kaum mehr als ein Armleuchter (man darf sich hier ein schärferes Wort denken), der, als sie ihm gegen Morgen erklärt, er sei ein Nichts, nein, weniger als ein Nichts, einen, nein zwei Teller zerschmettern darf. Justine ist ein Rätsel. Gewiss, die Mama (Charlotte Rampling) ist ziemlich kalt und der (geschiedene) Papa ein Leichtfuß, aber reicht das aus, um die Welt so zu hassen, dass ihr Ende wünschenswert erscheint?

Claire (Charlotte Gainsbourg), die liebevolle Schwester, weiß nur eines: Justine ist krank. Reiten tut ihr gut. Auf dem Hengst Abraham galoppiert sie durch den Wald. Als das Pferd auf einer Lichtung scheut, sieht sie nach oben, wo der blaue Planet inzwischen so groß ist wie der Mond. Die Wissenschaftler berechnen seine Bahn und versichern, er werde an der Erde vorbeifliegen. Die Menschen glauben ihnen (was sollen sie sonst tun). Justine ist die einzige, die begreift, dass das Ende der Welt bevorsteht. Von diesem Moment an lebt sie auf. Alle leiden, sie genießt. Dieses Paradoxon spielt Kirsten Dunst mit hexenhafter Hinterhältigkeit aus. Ihr Wahnsinn ist das Einverstandensein mit der Vernichtung. Sie zelebriert den Untergang. Sie lässt Funken auf ihren Fingerspitzen tanzen. Sie flirtet mit dem schönen, blauen Mörderstern. Die Käfer und Larven quillen aus ihren Schlupflöchern, die Vögel fallen tot vom Himmel, aber unsere drei Menschenmodelle, Justine und Claire und das Kind, verkriechen sich nicht, begehen nicht Selbstmord, wie Claires Ehemann John (Kiefer Sutherland), der deshalb als ein rechter Feigling erscheint, sondern erwarten das Ende der Welt in einer „magischen Höhle“ aus verschränkten Stangen, mitten auf dem Golfplatz, während „Melancholia“ den Horizont auslöscht und einen Feuersturm über die Wiese jagt. Cut. Ende. Abspann auf Schwarz. 

Um den überwältigenden NASA-Aufnahmen aus dem Weltraum etwas entgegenzusetzen, erfand Lars von Trier surreale, albtraumhafte Bilder in extremer Slow Motion. In dieser Konfrontation der Tempi besteht der eigentliche Erkenntnisgewinn. Das Lebendige wimmelt vergeblich gegen die Gelassenheit des Universums an. Die Erde ist ein Sternlein unter Millionen, Milliarden. Der Kosmos genügt sich selbst.