Mao

Maos rotes Bändchen – ein Griff. Es steht zwischen André Malraux und Herbert Marcuse, und das seit 1967. (Auch Bibliotheken altern). Hübsch ist es nicht, aber handlich. Mit seinem Plastikumschlag passt es in eine mittlere Jacken- oder Hosentasche. Genau dafür war es gedacht. Das kommunistische China bedurfte der ideologischen Festigung. Jeder Genosse sollte Tag und Nacht die Worte des Vorsitzenden Mao Tse Tung als Bibel bei sich tragen. Doch was wollten wir damit – wir deutschen Bürgerkinder mit sozialistischen Flausen im Kopf? Maos rotes Bändchen gehörte so selbstverständlich zur Grundausstattung einer linken WG, wie Che Guevaras bärtiges Porträt und die blauen Leinenbände des „Kapitals“. Das den Zeitläuften unterworfene Ranking der tonangebenden Philosophen schob einige von ihren Plätzen; Mao blieb. Wieso gerade er? Weil niemand wirklich etwas von ihm wusste? Wer hat schon seine Paraphrasierung eines Satzes von Clausewitz gelesen: „Die Politik ist Krieg ohne Blutvergießen, der Krieg ist Politik mit Blutvergießen“? China war weit weg. Zwar lösten die Nachrichten von den Verheerungen der Kulturrevolution Unbehagen aus, doch zu einer Entzauberung reichte es nicht.

Mao starb; der Maokult hielt sich bis heute. Tilman Spengler, der die Podiumsdiskussion im „Haus der Berliner Festspiele“ leitete, die der Vorstellung der Mao-Biographie von Jung Chang gewidmet war (12.9.), gab anrührende Beispiele von Maos heutiger Rolle als Volksheiliger. Jung Chang konnte das nur als Zeichen von Ahnungslosigkeit bedauern. Für sie ist Mao ein Massenmörder vom Schlag Hitlers oder Stalins. Hängt sich jemand bei uns etwa ein Hitler-Amulett an den Rückspiegel? Spengler wollte sich nicht darauf einlassen, dass der Große Vorsitzende letzten Endes ein unbedeutender Mann gewesen sei, ein Vasall von Stalins Gnaden, ein Intrigant und Trickser, der sich irgendwie an die Spitze der KPC gemogelt habe und eigentlich nur dafür lebte, im Bett zu liegen und zu lesen. Den „langen Marsch“ habe er in einer Sänfte zurückgelegt, die von den Soldaten übers Gebirge getragen wurde, zusätzlich beschwert durch die Bücher, die er unterwegs las. – Spengler blieb dabei: Mao war nicht weniger furchtbar als Stalin oder Hitler, aber auch ein großer Charismatiker wie sie. Anders sei die Macht, die er auf sich konzentrieren konnte, doch gar nicht zu begreifen – ! Jung Chang bestand auf ihrer Demontage und verwies auf die „Millionen“ zustimmender Kommentare, die ihr zugeschickt worden seien, nachdem das Buch in Hongkong auf Chinesisch erschienen war. 

Was mich nachdenklich stimmte: die Zeit verändert – bei unveränderten Fakten – auch die Geschichtsschreibung. Da gelangt jemand an die Hebel der Macht, gestaltet einen halben Erdteil um, wird zu Lebzeiten göttlich verehrt und geht ins Gedächtnis der Völker doch nur als der große Zerstörer ein. Der negative Mythos schlägt den positiven. Misst sich Weltgeschichte etwa an einer immanenten Moral?