Kraniche und Paulinenaue

Manchmal schlägt die Realität die Phantasie. Wir kamen von den Kranichen. Pünktlich zum Sonnenuntergang hatten sie sich als bewegte Linien von einem rosarot dämmernden Horizont gelöst, in vielfach gestaffelten Zügen den Himmel über Linum überquert und die Luft mit ihren rhythmischen Rufen erfüllt, die uns auf dem Rückweg bis in die Dunkelheit verfolgten. Das Navi zeigte eine Abkürzung an, die uns zu einer hell erleuchteten Siegessäule führte, mitten hinein in die preußische Geschichte, die hier begann, wo die Mark Brandenburg noch heute vor allem aus Sand und Moor besteht. Die goldene Siegesgöttin über den Wipfeln scheint den unsichtbaren Zugvögeln entgegen zu flattern. Die weiße Marmorbüste des großen Kurfürsten mit wallender Perücke, entworfen von Andreas Schlüter, wirkt in dieser naturbelassenen Umgebung exotisch. Die Schlacht von Fehrbellin 1695 ist hier am Hakenberg in ihre entscheidende Phase getreten. Friedrich Wilhelm II. hat sie gewonnen und Brandenburg von den Schweden befreit, das ist Geschichte. Zum Kulturerbe wurde diese Schlacht durch Heinrich von Kleists „Prinzen von Homburg“. So eignet die Phantasie der Dichter sich die Realität an. 

Von Fehrbellin nach Paulinenaue führt ein Radweg („Stille Pauline“ genannt, nach dem stillgelegten Bahnkörper der Pauliner-Neuruppiner Eisenbahn, deren Endbahnhof bis 1970 Paulinenaue hieß), so neu und glatt, dass keine Baumwurzel und kein Loch das leise Surren der Räder stört. Über uns der sternenübersäte Himmel – Andromeda, Kassiopeia, Großer Bär – aus dem sich vereinzelte Sternschnuppen lösen. Er gehört im Moment den volkstümlich schnatternden Wildgänsen, die offenbar nachts fliegen, vielleicht, weil sie die Jäger fürchten, die vor den klugen Kranichen kapituliert haben. Wir haben uns verspätet; das Geräusch, das sich nähert, verstummt und in der Ferne verklingt, ist unser Zug. In einer Lichtinsel am Ende des Hohlwegs erscheint der beleuchtete Bahnhof, der als Baudenkmal öffentliche Aufmerksamkeit verdient. Der nächste Zug fährt in einer Stunde. Wir wissen aus Erfahrung, dass es in solchen Orten, durch die der ICE wie eine Boden-Boden-Rakete schießt, in Gleiskörpernähe gewöhnlich keine wärmende Wirtsstube gibt. Ein gelbes Licht jenseits des Parkplatzes lässt uns dennoch hoffen…

Wanderer, merkt Euch Paulinenaue, hier geschehen noch Wunder. Hinter den Fenstern kräftig wummernder Rock. Rhythmisch hochgestoßene Fäuste bedeuten in diesem Fall keine Drohung… Eine geschlossene Gesellschaft nimmt uns auf. Die Fußballmannschaft hat zwar das Spiel am Sonntagnachmittag verloren, doch das hindert die Jungens nicht, heftig zu feiern. Der Wirt legt nur auf, was Beine und Schultern in unwiderstehliche Zuckung versetzt. Die Fußballer vollführen ihre Soli wie perfekte Ballettänzer. Obwohl sie trinken, wirkt jede Bewegung beherrscht, jede Begegnung choreographiert, kein Regisseur könnte so viel Anmut reproduzieren, es ist ein Vergnügen, ihnen zuzusehen. Zum Abschluss unseres kurzen Aufenthaltes wünschen wir bayernstämmigen Zufallsgäste uns (pardon, Preußen!) das Oktoberfestlied und die Truppe begleitet unsere etwas zweifelhafte Performance durch aufmunterndes Klatschen… Paulinenaue verdient ein „gefällt mir“.